Bernhard Stoffel erzählt:
Ein Sommer auf den Alpen
Die meisten Trinser haben keine Ahnung, wie es um 1950 mit der Schafsömmerung aussah. Deshalb versuche ich, in groben Zügen, eine solche Sömmerung zu erzählen.
Anfangs Juni war es soweit. Eine Kontrolltour auf der Alp Mora ergab, dass es genug Gras hatte und was noch nicht war, würde bald nachwachsen. So wurde beschlossen, an einem bestimmten Tag die Alp zu bestossen. Trins allein hatte zu wenig Tiere; so kamen noch von Feldis, Scheid, Scharans und von einigen Bauern aus der Umgebung noch etwa 300 – 400 Schafe dazu. Im Gesamten waren es zwischen 800 und 900 Stück. Einen Tag vor Alpaufzug kamen alle Schafe nochmals nach Hause. Diese waren sonst meistens auf den Weiden und in der Nacht in Gattern. Der Hirt hatte an diesem Tag frei und konnte sein „Burdi“ (buorda=Last) parat machen und das letzte Bier bis zum Herbst trinken.
Zwei bis drei Schafbauern halfen am Alpaufzug mit. Am Morgen früh verliess die Herde das Dorf und kam gegen Mittag auf der Alp Mora an.
Dort galt es zuerst den Kamin zu setzen und Wasser zu holen. Kaffee war begehrt und eine Verpflegung war auch nötig.
Am Nachmittag wurde noch die „Robe“ (rauba=Ware), Salz und Stroh von der andern Talseite auf Esels Schultern zur Hütte transportiert. (). Die Robe war am Morgen mit Pferd und Wagen von Trin herantransportiert worden.
Nun konnte die Sömmerung beginnen. Am Anfang ging es nach unten in den Wald bis zur Maliensstrasse. Später wurde das Weidegebiet ob der Hütte genutzt. Bis Mitte Juli erreichten die Schafe das Gebiet um den Bass (oberer Morgang).
Bei schlechtem Wetter und vor allem bei Schnee ging es in den Wald. Wenn es nötig war bis nach Sur Crap. Wasser musste in der Val Maliens geholt werden und es konnte nur gekocht verwendet werden.
Um etwas Geld zu verdienen wurden Silbermänteli gesammelt. Mit einer abgeschnittenen Sense wurden sie gemäht, getrocknet und alle 14 Tage mit einer Schleife nach Trin transportiert. Zahltag von der Schafgenossenschaft gab es erst im Oktober, so war man auf etwas flüssiges Geld angewiesen. In den Stosszeiten waren bis 20 Sammler anzutreffen. Die meisten kamen aus Trin. (Sepp und Karl Metzger, Rageth Caflisch und die Familien Schneider und Valentin Caflisch). Die Restlichen kamen von Untervaz, Bonaduz und Chur. Das Kraut konnte der Firma Küenzli abgeliefert werden. Der Kilopreis war Fr. 3.50.
Zu den Essgewohnheiten: Milch hatte man von den Ziegen, welche freien Auslauf hatten. Im Extremfall war dies von Quadris (Trin) bis zum Lageth beim Crat Mats. Mangelware waren Gemüse, Salat, Obst, sowie Frischfleisch. Teigwaren, Reis, Kartoffel und Mais gab es eher selten. Mehlspeisen, Suppen, Käse, Trockenfleisch, Würste, meistens hartes Brot; Konfitüre und Margarine standen auf dem Speisezettel. Zum Trinken gab es Kaffee und Milch, manchmal auch einen Schluck Schnaps!
Alle 14 Tage besorgten sich die Kuhhirten Lebensmittel. Das Alppferd ging nach Trin und kehrte am Abend wieder mit vollbeladenem Wagen auf die Alp zurück. Das Pferd war hier die Hauptakteur, denn der Holzknecht, der mitlief, hatte ausser gehen nichts zu tun. Mit dieser Fuhre durfte der Schafhirt auch einen Sack aufladen, meistens mit Brot, Post und ein paar Kleinigkeiten. Das Brot musste also 14 Tage halten und war gegen Schluss steinhart!
Mitte Juli ging es über die untere Kuhalp nach Plonca dira. Etwas Robe und Essenwaren wurden mitgenommen. Die Hütte in Plonca dira war mehr ein Schopf als eine Hütte. Diese schmiegte sich an einen Felsen. Innen war sie vom Feuern total schwarz und der Boden bestand aus Erde. Die Hütteneinrichtung bestand aus einem Kochherd mit einem Loch, einem kleinen Klapptisch, einem kleinen Gestell und einer Pritsche für zwei Personen. Am Pritschenrand hatte es ein Brett als Bank, einen Spaltstock, etwas Holz und eine kleine Bank für die Wassereimer. Zwei Personen konnten sich in der Hütte knapp bewegen. Bei schönem Wetter ging es noch; bei Regenwetter war es kaum zumutbar (Kleider trocknen, etc.). Das Wasser musste von Muletg oder vom Brunnen Richtung Tschep besorgt werden. Es war gutes Quellwasser, aber recht weit zum Tragen und wurde dementsprechend auch so genutzt.
Die Weidegebiete reichten von Sgurschaneus bis auf den Tschep sut, vom Muletg da castruns (gegenüber Bargis) bis Pala cavals, sowie die Umgebung um die Hütten. Die grossen Touren waren alle anstrengend und Tiere, wie auch die Hirten waren am Abend bettreif.
Ende Juli ging es wieder zurück auf die Alp Mora. Dort wurde das Weidegebiet bis zum Crap Mats genutzt. Wenn es so weit ging, kamen die Schafe erst gegen Abend zur Hütte zurück. Meistens wurden sie aber in ein Pferch gesperrt. Dies diente zur Alpdüngung. Alle zwei Tage wurden die Gatter umgestellt. Bei Gewitter oder schlechtem Wetter verzichtete man auf das Einpferchen, dies aus Sicherheitsgründen und um den Tieren etwas Schutz zu gewähren.
Ende August wurde wieder nach Plonca dira gezügelt. Dort blieb man bis zum 31. August. Ab 1.September wurde der Weidegang freier. Die Herde zog am 1.September nach Culm da Lavadignas. Der Hirt hatte bis Ende September seine Bleibe in der Sennhütte Lavadignas Miez. Alle zwei Tage wurde die Herde kontrolliert. D. h. die frischen Lämmer wurden registriert und gekennzeichnet. So war eine Verwechslung nicht mehr möglich. Auch wurde im Herbst fleissiger Salz gestreut als im Sommer. Manchmal musste bei der Geburt nachgeholfen werden. Dies war die Aufgabe des Hirten. Ebenfalls Pflicht war die medizinische Versorgung der Tiere. (Klauen schneiden, Wollenräude, Beinbrüche, etc.). Verendete Tiere, solche gab es im Sommer etliche durch Steinschlag, Pilze oder schwache Tiere bei Schnee wurden nicht gross entsorgt. Die Kadaver wurden an abgelegenen Orten deponiert. Den Rest besorgten Fuchs oder Raben.
Sobald das Vieh von den oberen Alpen (Culm da Sterls, Surcruns, Raschaglius) nach unten gezogen war, durften die Schafe auch dieses Gebiet beweiden.
Nach dem Alpabzug des Viehs um den 20. September kehrten die Schafe nach Lavadignas zurück. Dort blieben sie bis Ende September.
Die letzte Weidezügelte war von Lavadignas nach Alp Mora. Die Schafe erahnten diesen Wechsel. Man musste sie nur am Abend Richtung Murec treiben. Am anderen Morgen traf man alle Schafe auf der Alp Mora an. Dort blieben die Schafe etwa 8 Tage. Die Nächte wurden kälter, es gab viele Geburten und das Risiko, dass die Lämmer erfroren, wurde grösser. Bei schönem Wetter waren diese acht Tage die Schönsten des ganzen Sommers. Jeden Tag gegen Abend hatte es ein Nebelmeer. Es herrschte eine Ruhe, die für viele Leute kaum auszuhalten war. Dann war da eine Herde, welche zufrieden und wohl genährt war. Mein Vater sagte: „Herrliche Gegend, weit und breit keine Arbeit“. Nur gar keine Arbeit gab es nicht. Die Schafe mussten jeden Tag überwacht werden und Holzrüsten für den nächsten Sommer war angesagt.
Der Ziegenhirt oder ein Bauer kam ein paar Tage vor der Alpentladung hinauf und gab das Datum bekannt.
Die Schafe wurden am Vorabend vor der Schäferhütte versammelt. Meistens waren sie am Morgen auch noch dort. Der Hirtenknabe machte noch eine letzte Kontrollrunde. Die Schafe, welche speziell waren, waren bekannt. So musste man nur diese Tiere im Auge behalten und evtl. auf Auen, die nahe am Ablammen waren. Schwache Lämmer waren mit ihrer Mutter in die alte Hütte gesperrt worden, so überlebten alle diese letzte Sömmerungsnacht.
Gegen 8 Uhr kamen 2 bis 3 Schafbauer auf der Alp an. Es wurde noch ein Kaffee getrunken, dann das Kamin demontiert, eine Kontrolle in der Hütte und Umgebung gemacht, abgeschlossen und ab ging es nach Trin.
Die Helfer waren nötig, da es viele Lämmer gab, welche teilweise getragen werden mussten.
In Trin war unterdessen ein Baumgarten für die Schafaussortierung parat gestellt worden. Die fremden Schafbesitzer waren informiert und anwesend.
Wurden die Schafe auf Fastatg gesichtet, läutete der Messmer mit einer Glocke. So wussten die Schafbesitzer, dass es mit der Schafausscheidung bald losgehen würde. Die meisten Schafbesitzer kannten ihre Tier. Diese waren mit Farbe gekennzeichnet und hatten das Hauszeichen in den Ohren geschnitten. „Was für ein Zeichen habe ich?“, wurde Hans von einer Frau gefragt. „Am linken Ohr vorne ein Schnitt; hinten ein Loch.“ „Hans, du bist ein dummer Schwätzer.“ Trotzdem stimmte es!
Nach etwa einer Stunde war das Ganze vorbei. Die Schafe verschwanden in Richtung Stall oder auf die Strasse Richtung Heimatort. Den Hirt zog es ins Wirtshaus und er hatte am Abend meistens ein Bier zu viel erwischt!
Am anderen Tag hatte der Hirt frei. In den meisten Fällen ging er nochmals auf die Alp und machte eine Kontrolltour, Es kam vor, dass aussortierte Schafe statt in den Stall, auf direktem Weg wieder auf die Alp gezogen waren. Er packte die Wäsche und die restlichen Lebensmittel zusammen und machte sich definitiv auf den Weg ins Tal.